Stern/Titelstory - 8. April 1998
Junge, Junge!
Herz-Bube - Warum Hollywoods neuer Superstar unwiderstehlich ist
von Christine Kruttschnitt
Er sieht aus wie einer, mit dem man lieber zu
Disneyland geht als ins Bett. Hat den Kopf einer Preiskatze, mit
weit auseinanderstehenden blauen Augen und kindlich spitzem
Kinn, Stupsnase, Schnullerschnute. Die zarte Haut eines
Vierj�hrigen, das Lachen eines Mittelstufensch�lers. Milchbubi,
sagen erwachsene M�nner und verdrehen die Augen. Leo, hauchen
die T�chter, Leoleoleo, Licht ihres Lebens, Feuer ihrer Lenden,
Leo-nar-do. Machen kieksige Laute, wenn sie sein Bild auf
Zeitschriften sehen, und streicheln �ber seine papierne Wange.
Schreiben Gedichte im Internet: „Ich w�nsche mir, deine s��en
Lippen zu k�ssen/tr�ume immer davon, eines Tages mit den Fingern
durch dein perfektes Haar zu streichen/Merke ich gar nicht, da�
das nur in meinen Tr�umen geschehen kann?"
Okay, okay, jetzt
mal in aller Ruhe. Der Junge hei�t Leonardo DiCaprio, ist 23
Jahre alt, Hauptdarsteller des erfolgreichsten Films der
Kinogeschichte und im Augenblick der gr��te Frauenschwarm der
Welt. Das finden nicht nur die Plateausohlen-Girlgangs vor
Hennes & Mauritz, das finden Damen in Jil Sander („La� den,
seufz, erst mal 30 werden ... �) und Produzenten in Hollywood:
„Er hat Charisma, ganz einfach, und wenn Sie Charisma definieren
k�nnen, sagen Sie's mir, dann zieh' ich es auf Flaschen", sagt
Laura Ziskin, eine Gesch�ftsf�hrerin bei 20th Century Fox.
Wenn er will, verdient er mit seinem n�chsten Film 25 Millionen
Dollar. Das w�re - der Junge ist ein wandelnder Superlativ -
nat�rlich Rekord. Mehr als Arnold, Travolta, Tom Cruise
bekommen. „So einen Irrsinn habe ich noch nie gesehen", sagt
Sherry Lansing von den Paramount-Studios, die DiCaprios
Erfolgsfilm „Titanic" mit Fox zusammen produziert haben. „Ich
wei� gar nicht, womit man das vergleichen kann. Vielleicht mit
den Beatles, Elvis, Frank Sinatra ... „
Kaum ein Tag vergeht,
ohne da� Bedeutendes aus dem Leben des Einzigartigen vermeldet
wird („Leonardo hat ein blaues Auge!"), B�cher �ber ihn schie�en
in die Bestsellerlisten, das „Playgirl" will Nacktfotos von ihm
drucken - h�chste Ehre f�r m�nnliche Sexsymbole - und das
weltweite Netz sprudelt vor aberwitzigsten Fan-Informationen
(„Alles �ber Leo - er mag Nudeln, Rap-Musik, 69er Mustangs, die
Farbe Gr�n, ha�t Fleisch und M�chtegern-James-Deans, und sein
Rottweiler hei�t Baby").
Amerikanische Teenie-Bl�tter wie
„All About You!", f�r die der Schauspieler als Erotik-Barometer
dient („Ist dein Freund so s�� wie Leo?"), haben seit November
keine Ausgabe mehr ohne ihn ver�ffentlicht. Und in der M�nchner
„Bravo"-Redaktion, wo s�ckeweise Leserliebesbriefe eingehen,
herrscht stille Verzweiflung dar�ber, da� mit DiCaprio zum
ersten Mal ein Star angehimmelt wird, der nicht einfach mal so
f�r Poster-Shots zur Verf�gung steht. Der nicht am Fan-Telefon
sitzen und Fragen nach seinem Liebesleben beantworten mag.
Sondern ein Multimillion�r aus Hollywood ist, der von seinen
PR-Leuten abgeschirmt wird, weil die ganze verdammte Welt ein
St�ck von ihm haben will.
Liebe Teenies, ihr m��t jetzt
tapfer sein: Im wirklichen Leben ist er sogar noch ein bi�chen
h�bscher als auf der Leinwand. Gro�, schlaksig, blond wie ein
Weizenfeld, solo wie Lassie - und dabei so unerreichbar wie
Pluto. Denn die Sache mit dem Liebesleben bleibt nebul�s - war das
nun was Ernstes mit dem Model Kristen Zang? Hat er wirklich
Aff�ren mit sch�nen Frauen? Oder darf die Schwulengemeinde
hoffen, f�r die sich der „attraktive, aber seltsam
geschlechtslose Akteur", so das deutsche Homosexuellen-Blatt
„M�nner aktuell", durch seinen Umgang mit einer wahren
Kumpel-Brigade w�rmstens empfohlen hat?
Gerade diese erotische
Unsch�rfe macht Leonardo DiCaprio zum Pin-up-Boy der Reinheit.
Er ist der perfekte Kind-Mann: ein androgyner Engel mit weichen
Armen, gleichzeitig leidenschaftlich und g�tig, entschlossen und
sanft; ein Romeo light, der noch nicht gelernt hat, wie man Frauen
weh tut. Er braucht keinen Dreitagebart und nicht den Geruch
nach Freiheit und Achselschwei�, um als Liebhaber ernst genommen
zu werden, und er ist noch Junge genug, um sich selbst als Mann
nicht so entsetzlich wichtig zu nehmen. Gut zu Frauen und gut zu
v�geln, wo gibt's denn so was.
F�r junge M�dchen also die
ideale erste Liebe: nicht zu alt, keinesfalls kalt, frisch
gewaschen und mit der Ausstrahlung eines Robbenbabys, kurz bevor
es abgeschlachtet wird. In einer der f�nf frisch erschienenen
Biographien findet sich sogar das Bekenntnis, da� er, wenn er
verliebt sei, „in Babysprache redet und gern kuschelt, ganz der
Teddyb�r". Nichts Aggressives, Derbes oder gar Bedrohliches geht
von diesem J�ngling aus- zu Zeiten, in denen die Nachrichten voll
sind von Sexualverbrechem, ist das Bild vom sanften,
unverdorbenen Verf�hrer besonders willkommen.
Vielleicht
finden deswegen auch alte M�dchen Leo unwiderstehlich. Nicht
nur, weil ihre Mutterinstinkte bei seinem Anblick Walzer tanzen.
Sondern weil er ihnen den Glauben an nette Kerls zur�ckgibt -
M�nner, die nicht erst durch K.o. zu stoppen sind. Die nicht in
erster Linie an sich selbst denken, sondern wie dieser reizende
junge Maler von der „Titanic" ins Wasser gehen f�r ihre Liebe,
danke sch�n.
In seinem neuen Film
„Der Mann in der eisernen
Maske", der diese Woche in den deutschen Kinos anl�uft und in
den amerikanischen kurzzeitig sogar „Titanic" von Platz eins
stie�, toppt DiCaprio diese Performance sogar noch. Er spielt
ein langhaariges, zartes Wesen, das so lieb und knuffig ist, als
w�re es in einem Hundek�rbchen zu Hause. Als Zwillingsbruder des
despotischen K�nigs von Frankreich - hey, M�dchen, es gibt
doppelt Leo f�rs Geld! - mu� er bis zur Halbzeit unter einer
gu�eisernen Haube darben, bis die vier Musketiere ihn befreien.
Die eiserne war freilich eine Sch�nheits-Maske: So gut hat
Leonardo DiCaprio noch nie ausgesehen.
Er wird ausgeleuchtet wie
ein M�dchen, mit Weichzeichner und sanftem Oberlicht, darf
angehechelt werden als m�nnliches Nymphchen. So s��, so
appetitlich. F�r m�nnliche Zuschauer eine etwas heikle Sachlage:
Sollen sie sich etwa mit diesem Fruchtzwerg identifizieren? Ist
das der Sieg der Emanzipation? Die M�nnchen geben jetzt das
Weibchen.
Und wie dicke, zum Jagen zu alte und zum Gejagtwerden
zu schieche L�wen geben Jeremy Irons, Gabriel Byrne, John
Malkovich und Gerard Depardieu das Rahmenprogramm zu Leonardos
Zwei-Mann-Show. Depardieu ist geradezu der Anti-Leo: Schon in
der Form zerlaufen wie ein alter Camembert, f�llt er �ber junge
M�dchen her wie �ber Schlachtplatten und gestikuliert, als w�rde
er st�ndig Frauenbr�ste kneten.
Der Film ist ein einziger gro�er
Kniefall vor einer Zielgruppe, die Hollywood bislang komplett
ausgeblendet hat: junge M�dchen. Eine Analyse des
„Titanic"-Publikums hat gezeigt, da� weibliche Teenager der
derzeit einflu�reichste Wirtschaftsfaktor dieser Branche sind.
„Sie kommen immer wieder, wenn ihnen ein Film gef�llt. Sie
arbeiten nicht, m�ssen keine Familie ern�hren, haben Zeit und
Geld", erkl�rt Joe Roth von den Disney-Studios, die gerade zwei
solcher Projekte entwickeln. Wie alle anderen Studios auch. Und
alle h�tten gern DiCaprio.
Zur Not auch Matt Damon („Good
Will Hunting"). Oder einen anderen jungen, bitte sehr jungen
Star. Eine Art ewiger Adoleszenz scheint ausgebrochen: vor 50
Jahren war ein Herzensbrecher wie Clark Gable schon gute 40
Jahre alt, als er mit „Vom Winde verweht" einen Romantik-Sturm a
la „Titanic" ausl�ste. Und Cary Grant weit �ber 50, als er auf
der Leinwand die K�ken Grace Kelly und Audrey Hepburn verehrte.
Heute k�nnte er Leos Daddy spielen, mehr w�re nicht drin.
Helden
ereilt ein schnelleres Verfallsdatum, weil die pubert�ren
Hormonsch�be fr�her einsetzen. In der Pop-Musik regieren Bands
wie Hanson (Durchschnittsalter: 14) und S�nger wie der
neunj�hrige Aaron Carter. „Heutzutage scheint die Teenagerzeit
schon mit acht oder neun zu beginnen�, sagt der Musikmanager
Danny Goldberg von der Plattenfirma der Hanson-Br�der. �Dann
erwachen gewisse Gef�hle."
Und die Industrie beeilt sich, die zu
n�hren. Wir bewegen uns auf eine Kultur der Schnullerbacken zu.
Demn�chst sind F�nfj�hrige Plattenmillion�re und achtj�hrige
Sexsymbole (und das ein Trend bitte sch�n aus einem Land, in dem
Adrian Lynes Literaturverfilmung „Lolita" immer noch nicht
gezeigt werden durfte).
Da k�nnte man schnell auf die Idee
kommen, einer wie DiCaprio - �konomisch gesehen der einzige
seiner Klasse - sei das Ergebnis raffinierter
Vermarktungsstrategie. Also: Was Junges, H�bsches, dazu eine
Heldenrolle, nicht zu soft, damit die Jungs nicht kichern, nicht
zu hart, damit sich die M�dchen nicht langweilen, und schon
l�uft die Adorationsmaschine.
Ist aber nicht so. Der Junge
kann n�mlich wirklich was. Seit seinem 17. Lebensjahr - als
14j�hriger fing er an mit Werbespots f�r Matchbox und M�sli -
sucht er sich schwierige, ganz und gar unsexy Rollen aus. Er
spielte Robert De Niros verstockten Stiefsohn („This Boy's
Life"), dann einen geistig Behinderten in „Gilbert Grape -
Irgendwo in Iowa", stahl damit Johnny Depp die Show und wurde
f�r einen „Oscar" vorgeschlagen. Wirkte selbstzerst�rerisch als
ein Junkie, verzweifelt als Homosexueller, verst�rt als
Brandstifter. Er war auf dem besten Wege, ein fabelhafter junger
Charakterdarsteller zu werden. Und dann passierte die Sache mit
Shakespeare.
Sein Vater, der italo-amerikanische Comic-Verleger
George DiCaprio, riet ihm zur Hauptrolle in der popbunten
Klassiker-Verfilmung „Romeo und Julia". Leonardo trug offene
Hemdchen und seine blonde Tolle in der Stirn, zeigte Mut als
K�mpfer und Z�rtlichkeit als Lover - und die Welt war
angesteckt. Der Film, immerhin mit schwierigem Originaltext,
spielte allein in den USA mehr als 50 Millionen Dollar ein. Und
von da an war Leo hei�.
Als er vor anderthalb Jahren im
spanischen Rosarito ankam, katte er keine Ahnung, da� „Titanic"
sein Leben auf den Kopf stellen w�rde. Er war genervt von den
anstrengenden Dreharbeiten und sehnte sich danach, mit seinen
Kumpels in Los Angeles um die H�user zu ziehen.
Er bildet sich
heute noch ein, es g�be bald wieder eine Zeit in seinem Leben,
wo er das k�nnte. Wo nicht Horden von Menschen vor seinem Haus
oder Hotel auf ihn warten. Wo nicht Paparazzi jeden seiner
Schritte - Demi Moore! Klick! - verfolgen. Wo er mit seiner
Mutter Irmelin, einer Deutschen, die seit den 50er Jahren in den
USA lebt, unbehelligt essen gehen k�nnte. Oder seine Gro�mutter
in Oer-Erkenschwick besuchen, ohne da� der Ruhrpott kocht.
Er
wei� genau, da� man von dem Wirbel �berschnappen kann. „Leonardo",
orakelt eine Psychologin ungefragt in einer amerikanischen
Klatschzeitung, „es sind Eisberge da drau�en..." Er versucht,
normal zu bleiben. Sagt er. Aber was soll das sein in seiner
Welt? Er will sich f�r ein Jahr zur�ckziehen, gar nichts mehr
drehen. Auf Tauchstation gehen, abk�hlen, nachdenken.
Und dann,
wenn der ganze Wahn vor�ber ist, schlauer zur�ckkommen. Und
�lter. Vielleicht ist das dann wieder was wert. Danke Mona Lisa ! * |